Meine Damen und Herren,
„Vom Sichtbaren und Unsichtbaren“ – ein gut gewählter Titel für diese Ausstellung, denn das ist das im weiteren Sinne gemeinsame Thema Sasha Kouras und Joachim Kreiensieks, das beide in je eigener Weise künstlerisch visualisieren. Sie haben dabei einen ganz unterschiedlichen Ansatz: Sasha Koura arbeitet mit Papier-Fundstücken, alten Büchern, Landkarten, die sie auf dünnem Karton befestigt. Die Verwendung von gebrauchtem Alltagsmaterial erinnert an die Vorgehensweise der Arte Povera, einer Bewegung der späten sechziger und siebziger Jahre, die allerdings vorzugsweise Installationen hervorbrachte. Sasha Koura arbeitet konzeptuell und kommt ursprünglich von der konkreten Kunst. Ihre einzige frühe Arbeit in dieser Ausstellung, der Flachdruck Blue Shape von 1993, ist dafür ein Beispiel.
Diese Gestaltungsweise hat sie grundsätzlich auch in ihren Collagen und Zeichnungen der letzten Jahre beibehalten, wie die Auswahl von weiteren 21 Werken zeigt. Doch hier kommt das Zeitmoment, die Vergänglichkeit mit ins Spiel; nicht nur Menschen, auch Dinge altern ja, verändern ihre Farbe, werden unzeitgemäß. Das ursprünglich weiße Papier vergilbt, die Seiten eines Buches sind ersichtlich abgegriffen, haben Knicke, sind aus der Heftung gerissen. Die feine Goldschrift eines Konversationslexikons steht in Gegensatz zu diesem vermeintlich wertlosen Material, dem die Künstlerin durch ihr wohlüberlegtes Arrangement einen neuen Stellenwert gibt.
Sie hebt das gemeinhin Übersehene, achtlos Entsorgte ins Bewusstsein, indem sie es nach ästhetischen Kriterien in einen überraschenden Zusammenhang stellt. Das darf nicht zu dekorativ sein und auch der Text spielt für die Komposition eine untergeordnete Rolle. Skripturale Zeichnungen akzentuieren die Blätter, setzen sich in ihrer fortlaufenden Aneinanderreihung in Gegensatz zu dem sparsamen Text. Die Macht des Gedankens, so ist auf einem Titelblatt zu lesen, wird durch ein kleines Kreuz, das aus lindgrünem Papier gerissen ist, kommentiert. Welch ein Gegensatz zur schrill bunten, auf Sensationen gepolten Bilderflut, die uns jeden Tag umgibt. Und wie konzentriert sich unser Blick auf die „arme“ Farbigkeit und die Oberfläche des Papiers in Sasha Kouras Kompositionen. Das Vergehen wird anschaulich, der Lebensfluss in Objekten greifbar, verdinglicht.
Die Präsentation der Papierstücke auf schmalen Wandleisten macht das Austauschbare, Freie im künstlerischen Prozess deutlich, das der gebürtigen Britin auch im Leben wichtig ist. Wie sie mir verraten hat, sind an einigen ihrer Möbel in Baden-Baden Rollen angebracht. Doch nichts an ihren Werken macht einen ausgesprochen bewegten Eindruck; das verhindert schon die Ausrichtung auf Waagrechte und Senkrechte, die den Kompositionen Ruhe geben. Dennoch ist nichts fest, nichts fixiert, auch nicht die Landkarten, von denen der Betrachter nur die jeweilige Rückseite sieht und die einen minimalen Abstand zum Bildträger haben. Sie sind ihres eigentlichen Zwecks enthoben. Eine Wanderkarte aus dem Schwarzwald, eine Kriegskarte von der Besatzung Belforts– all das bleibt unsichtbar. Nur die Titel geben Hinweise auf das Verborgene, zum Beispiel All quiet on the Western Front von 2017. Der ursprüngliche Inhalt, der von der Geschichte überholte Informationsgehalt, die Topografie auf dem Lageplan vor einem Jahrhundert, ihre damalige Bedeutung oder die Gedankengänge in einem Buch sind durch die Art der Präsentation nicht mehr erkennbar. Selbst der Kulturschatz Deutsche Märchen ist auf merkwürdige Weise entfremdet.
Eine solche Entfremdung, ein Identitätsverlust betrifft natürlich auch und auf besonders erschreckende Weise den Menschen. In der Arztpraxis werden wir ja nur noch pro forma nach unserem Namen gefragt; registriert sind wir nach dem Geburtsdatum und damit reduziert auf eine achtstellige Zahl, unter der die Krankheitsdaten zu finden sind. Acht Stellen muss man auch in den Kodierapparat eingeben, den Joachim Kreiensiek vor längerem von einer Apotheke erworben hat und mit dem er in einer ganz zeitgemäßen Weise die bildlichen Koordinaten seiner Porträts festlegt. Porträts in einem denkbar weiten Sinne: Er gibt die Geburtsdaten einer Person ein und erhält ein Punkteraster als Basis für seine Komposition. Auf quadratischen Leinwänden, 25x25cm groß, hellgrau in verschiedenen Valeurs grundiert, sehen Sie im hinteren Ausstellungsraum die codierten Ansichten unbekannter und aus dem Kreise des Speyerer Kunstvereins bekannter Personen. Die aufgebrachten weißen Zeichen in Form von Punkten oder, in der hier angesprochenen Werkreihe, in Form von Sternen mögen – wenn man ihren Sinn kennt: abgemalte Lochkarten für einen Menschen – geradezu brutal erscheinen. Wer sieht sich schon gerne zu einem Raster abstrahiert. Doch sie haben einen hohen ästhetischen Reiz auf ihrer monochromen Farbfläche und was zunächst als Entwertung des Individuum erscheinen mag, ordnet den Menschen aus – vergänglichem – Fleisch und Blut doch in einen universellen Zusammenhang ein, gewissermaßen als Staubkorn des Kosmos oder – um einen Sinnbezug zu Sasha Kouras Werken anzusprechen – ein kurzer Moment der fortlaufenden Geschichte.
Was bleibt vom Leben, vom Geist, vom Menschen letztlich übrig? Der Name und Daten? Joachim Kreiensiek wurde zu den Arrangements aus kleinen codierten Porträts durch die Votivtäfelchen in einer französischen Kirche inspiriert und hat diese alte Form des Gedenkens in eine zeitgemäße Bildsprache übertragen. Diesen Zusammenhang zeigt speziell eine Arbeit, in der die Sterbedaten Klaus Jürgen Fischers eingebracht sind, seines Professors an der Universität Mainz, wo Joachim Kreiensiek 1994 sein Diplom in freier Kunst erwarb. Das Vergehen von Zeit wird bei ihm also wie bei seiner Künstlerkollegin in dieser Ausstellung anschaulich, wenn auch mit vollkommen anderen Mitteln. Die Lötplatinenbilder der Geburtsdaten in Öl auf Leinwand sind Zeugen der allumfassenden Rationalisierung unseres Seins. Doch der Künstler gibt ihnen eine über sich hinausweisende geistige Dimension, wie besonders an seinen großformatigen Kompositionen zu diesem Themenkreis erkennbar ist. Deren Titel Lichtgestalt stützt diesen Eindruck.
Faszinierend in ihrem Wechselspiel zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, zwischen zu Erkennendem und Verborgenem sind Joachim Kreiensieks wandfüllende Stadtpläne. Erst drei Wochen alt und speziell für diese Ausstellung entstanden ist die Karte von Speyer, ein für die gegenwärtige Werkphase typisches Beispiel, das aber in seiner Dreifarbigkeit neu ist. Der Maler hat mit dem Rotbraun und Ocker Bezug auf den Sandstein der Gebäude genommen, das Grün steht für den Rhein, der uns ja auch als Flussporträt in der großen Arbeit direkt gegenüber dem Eingang in den Schauraum ins Auge fällt. Die auf den ersten Blick monochrom wirkenden Stadtkarten, werden recht schnell als sorgsam ausgearbeitete Kompositionen erkennbar, Straßen, Häuser, Kirchen – Stadtporträts, bei denen es dem Künstler nicht um die Infrastruktur gegangen ist. Achten Sie vor diesem Vexierspiel auf den Pinselduktus, beispielsweise die waagrechte Ausrichtung für öffentliche Gebäude, Partien, in denen die Farbe wieder etwas weggekratzt ist und so weiter.
Wie die genannten drei Farben als charakteristisch für Speyer gelten können, so das Weiß als Farbe der Transzendenz für Rom. Die Ewige Stadt – auch sie ist nicht ewig, ebenso wenig wie Wiesbaden und die Topografien der anderen Städte, die durch Neubauten ihr Gesicht rasch verändern. Wieder sind wir bei dem Thema Vergänglichkeit, für das auch die Installation im hinteren Ausstellungsbereich, das opulente Gläserarrangement auf einer weiß gedeckten Tafel steht. Das Glas mit Lichtreflexen (das Lebenslicht) ist in der Malerei des Barock ein weit verbreitetes Vanitas-Motiv. Joachim Kreiensiek hat es nicht nur aufgegriffen sondern durch intakte und verbrannte Glühlampen in den Gläsern noch verstärkt und in unsere moderne Lebenswelt transformiert.
Sie sehen die vielen über das Formalästhetische hinausgehenden Bezüge in den Arbeiten der beiden hier präsentierten Künstler und vielleicht konnte ich Ihnen ein paar Eindrücke vermitteln, die Sie auf Ihrem Rundgang durch die Räume begleiten.
Martina Wehlte
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