Der Bruchsaler Bildhauer Günter Wagner im Hans-Thoma-Kunstmuseum in Bernau

Rede zur Vernissage am 20. Januar 2019.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

die Sage vom illegitimen Königssohn Theseus, der auf Kreta in einem Labyrinth zu dem Menschen vertilgenden Minotaurus vordringen will, ihn töten und aus dem Labyrinth wieder herausfinden muss, gehört zu den bekanntesten Geschichten der griechischen Mythologie. Diese Sagen haben bis heute nicht an Faszination verloren, sie lassen uns staunen über den Mut und die Entschlossenheit ihrer Helden und Heldinnen, aber ebenso erschauern wir vor ihrer Skrupellosigkeit, ihrer Machtgier und Egozentrik und empören uns über die willkürlich verteilte Gunst der Götter und ihre grausame Rachsucht. Denken wir an den Schwerenöter Zeus und seine misstrauische Gattin Hera, an Ödipus, der unwissentlich zum Vatermörder und Gemahl der eigenen Mutter wurde, an die rasende Medea, die ihre Kinder tötet, damit ihr treuloser Mann keine Nachkommen habe, und schließlich an das Mischwesen Minotaurus, die tragische Frucht eines doppelten Betruges. Endlose Verflechtungen von Schuld, die neue Schuld hervorbringt.

Was als Stoffsammlung an sex and crime wie eine Fundgrube für Boulevardzeitungen erscheinen könnte, lässt uns tiefer in menschliche Abgründe blicken, auf den Wesenskern unserer Existenz, auf allgemeinmenschliche Erfahrungen, wie sie im Labyrinth zum Bild werden. Wir begegnen Prototypen im Spannungsfeld zwischen Gut und Böse, auf ihrem Weg einem unberechenbaren Schicksal unterworfen, dem sie sich stellen, indem sie vorangehen. Mit der Theseus-Sage wurde das Labyrinth ein zeitloses Sinnbild für den Lebensweg jedes Einzelnen. Es ist unüberschaubar, aber zielführend, denn es hat keine Abzweigungen oder Sackgassen. Darin unterscheidet es sich vom Irrgarten, der im 16. Jahrhundert aufkam und für die Gestaltung von Parks und Schlossgärten populär wurde. Das Labyrinth führt auf unvorhersehbarem Weg zum Ziel. Alle alten Labyrinthe haben eine ganz bestimmte Form, man spricht vom klassischen, kretischen oder Urlabyrinth. Diese Form kann rund oder eckig sein und hat eine größere oder kleinere Mitte.

Günter Wagner setzt sich mit der Thematik ‚Labyrinth‘ seit etwa 2009 auseinander. Angeregt wurde er dazu von Umberto Ecos Roman „Der Name der Rose“. Darin geht es augenscheinlich um die Aufklärung einer mittelalterlichen Mordserie, tatsächlich aber um philosophische Auseinandersetzung und Erkenntnisgewinn im historischen Kontext des Universalienstreits. Ein wichtiges Motiv ist dabei eine Klosterbibliothek mit unüberschaubaren Geschossen und labyrinthischen Gängen. Sie geht am Ende, als die Hauptfigur den Zusammenhang und Sinn der Ereignisse entschlüsselt hat, in Flammen auf. Es ist kein Wunder, dass sich Günter Wagner von diesem großartigen, tiefsinnigen Roman und seinen Bildern zur Auseinandersetzung mit Geist und Form des Labyrinths inspirieren ließ. Da ist die klare geometrische Form, sei es in Kreisen, Quadraten oder zeichenhaften Teilen, die zu streng geordneten, komplexen Strukturen zusammengefügt werden. Das entspricht ganz der bildnerischen Sprache Günter Wagners, der als Bildhauer im Dreidimensionalen von stereometrischen Grundformen ausgeht, die er behutsam modifiziert. So bekommt bei der Ausarbeitung des Entwurfs eine im Ansatz konstruktive Gestaltung rhythmische Eleganz und innere Dynamik, was sowohl an den großen Plastiken im öffentlichen Raum anschaulich ist als auch an Günter Wagners kleinen Objekten. Sie haben ein Energiepotential und wirken doch ruhig und geschlossen.

Im Zweidimensionalen haben wir einen vergleichbaren Eindruck, wenn wir auf die Reihe von Labyrinth-Findlingen blicken, die im vergangenen Jahr entstand. Die ebenmäßigen, das Zentrum umschließenden Gravuren haben etwas streng Kalkuliertes, doch folgt das Auge den fortlaufenden Linien, so wird es der inneren Bewegtheit dieser Muster gewahr. Die verschiedenfarbigen und in ihrer vorgefundenen Naturform belassenen Sandstein- und Granitfindlinge aus dem Murgtal lassen die Zeichnungen wie Zeugnisse einer längst vergangenen Zeit erscheinen. Als Fundstücke archäologischer Ausgrabungen gehen auch die zu einem Ensemble arrangierten Bruchstücke aus Muschelkalk durch. Das Fragmentarische in Kombination mit handwerklicher Perfektion ist im Oeuvre des Künstlers von ebenso großer Bedeutung wie der Camouflage-Effekt. Als gefertigte Kunstobjekte von geradezu zeitloser Schönheit sind dagegen die sogenannten Pflastersteine in patiniertem Bronzeguss erkennbar. Ihre in Grüntönen schimmernde Oberfläche gibt ihnen einen malerischen Reiz, der zusammen mit ihrer roh behauenen Form in Gegensatz zu den Labyrinth-Mustern tritt.

Günter Wagner, der mit zahlreichen Großplastiken im öffentlichen Raum vertreten ist, arbeitet nicht figurativ, doch der Mensch ist zumeist direkter Bezugspunkt seines Schaffens. Die Werke sprechen sowohl das ästhetische Empfinden als auch den Intellekt an, fordern den Betrachter zur Kontemplation und Reflexion heraus. Sie sind aus kostbarem Material wie Marmor, besonders schönem Granit, patiniertem Gusseisen, ferresierten Steinelementen. Der Künstler kombiniert gern gegensätzliche Stoffe wie Glas und Eisen oder Stahl, so beispielsweise in den großformatigen, zweiteiligen Kreis-Labyrinthen aus dem Jahr 2010. Sie sind aus lasergeschnittenem, patiniertem Stahl und sandgestrahltem Glas. Durch die äußerst sorgfältige Bearbeitung dieser Wandobjekte kommen die je eigenen Wirkweisen der Materialien zur Geltung und es tritt ein Wechselspiel zwischen warm und kalt auf, zwischen kompakt und durchscheinend, leicht und schwer, roh belassen und glatt. Je nach Lichteinfall kommt zu dem Stahlteil in seinem Farbspektrum von weichem Braun und dem dahinter liegenden Glasteil noch eine dritte Ebene: der Schatten, so dass das Objekt Räumlichkeit erhält. Dieser Effekt lässt sich besonders schön an der sechsteiligen Minos-Serie beobachten, auf die ich noch zu sprechen komme.

Auch das Spiel mit Schein und Sein, das Täuschen im Material durch optische Effekte reizt Günter Wagner immer wieder. Nicht von ungefähr hatte eine Ausstellung 2016 in Ettlingen bei Karlsruhe den Titel ‚Camouflage‘. Anknüpfungspunkt waren damals in der Karlsruher Majolika gefertigte Keramiken, die er in einem aufwendigen Verfahren mit Eisenpulver beschichtete und anschließend patinierte, so dass der Eindruck von gusseisernen Objekten entstand. Dafür erhielt er 2015 den Kunstpreis der Museumsgesellschaft Ettlingen für die Region Baden, Elsass und Südpfalz. Es sind Keramiken, die in einem speziellen Verfahren mit Säuren und Laugen den warmen, weichen Oberflächeneffekt von korridiertem Eisen erhalten. Zwei solche Werke sehen Sie im hinteren Teil dieses Raumes rechts. Günter Wagner hat seine Formensprache hier in einem neuen Werkstoff konsequent weiterentwickelt, mit einer frappierend täuschenden Wirkung. Es sind die Raumlabyrinth-Halbkugel und das gebogene Raumlabyrinth, beide von 2012. Dabei wird die Freude am planvollen, konstruktiven Gestalten der Plastiken, dem Entwickeln in den Raum hinein ebenso deutlich wie die Lust am Verwirren des Betrachters hinsichtlich des Materials.

Ebenfalls Keramiken, aber von massiger Kompaktheit sind die massiven Labyrinth-Blöcke aus schwarzbrennender Keramik. Sie erinnern an Quader und Würfel, die in einem Stecksystem aus einzelnen Teilen zusammengesetzt sind. So kompakt diese dunklen Objekte im Ganzen wirken, suggerieren sie zunächst etwas Zusammengebautes. Zwischen den scheinbaren Einzelelementen liegen deutliche Abstände, so dass für den Betrachter das Unüberschaubare ihrer Struktur, eben das Labyrinthische, hervorgehoben wird. In dem absichtlich auf seinem Sockel gefährlich versetzten, überhängenden Labyrinth-Block wird ein weiteres grundlegendes Gestaltungsprinzip Günter Wagners anschaulich: die bewusst hervorgerufene Spannung zwischen Labilität und Stabilität.

Das Irritierende, Verunsichernde an objektgebundenen Labyrinth-Wegen, deren Linien das Auge in der Fläche folgt, dieses Irritierende wird in einer großen Installation als Raumerfahrung noch wesentlich intensiver. So ist die Rauminstallation Rastlos eine wahre Augentäuschung. Schnittgenau aneinandergefügte Kartonteile sind in unterschiedlichen Weißtönen bemalt, so dass der Eindruck von Bodenstufen entsteht, wo doch eine durchgängig ebene Fläche gegeben ist. Darauf sind eisenbeschichtete und patinierte Stühle mit unterschiedlich langen Stuhlbeinen verteilt. Sie scheinen im Boden zu versinken, zu kippen, haben keinen festen Stand, der zum sicheren Ausruhen einladen würde. Ein Sinnbild für die existentielle Unsicherheit des Menschen, der im Leben nicht rasten kann, sondern zum Weitergehen gezwungen ist, um nicht unterzugehen. Dabei betreffen die großen Entscheidungen nicht die Frage, wie man etwas angeht oder wie etwas ausgeht, sondern ob man geht.

Damit kommen wir zum Motiv des Labyrinths im engeren Sinne zurück und blicken auf das Spiegel-Labyrinth, eine zehnteilige Bodenarbeit aus sandgestrahlten Spiegelplatten, die ein vom Künstler selbst entworfenes assoziatives Muster zeigen. Auf inhaltlicher Ebene ist das Labyrinth hier ein Spiegel, der uns das Leben vor Augen hält. Deshalb ist dieses Motiv ein meisterliches Werkzeug der Erkenntnis. Auf formaler Ebene ist die flächige Labyrinthform durch die Spiegelung in den Raum erweitert. Diese Transformation in die dritte Dimension schafft einen imaginären Raum, eine Erweiterung, die uns optisch vorgetäuscht wird. Unser Gehirn lässt sich von dieser Illusion faszinieren, was meines Erachtens nicht unbedingt eine Frage der Intelligenz, sondern des Interesses ist. Der moderne Mensch strebt nach Entgrenzung, statt auf den Wesenskern abzuzielen. Günter Wagner hat in verschiedenen Werkreihen das in vier Quadraten entwickelte römische Labyrinth dargestellt sowie andere, auf eine Mitte ausgerichtete Labyrinthe. In seinem selbst entwickelten Spiegel-Labyrinth gibt es Symmetrien, aber kein exponiertes Zentrum der Anlage, auf das sich der Mensch ausrichten könnte. Ein solches Labyrinth zielt auf Entgrenzung, Orientierungslosigkeit wie auch das Motiv des Spiegels mit seiner Tiefenwirkung, die nicht nur der Bodenarbeit eignet sondern in gewissem Maße ebenso den spiegelnden Glasflächen in den tiefenräumlich wirkenden großen Kreis-Labyrinthen mit ihren ausschnitthaften lasergeschnittenen Stahlformen. Wohl auch deshalb zieht das Thema den Künstler immer und immer wieder an, abgesehen von der notwendigen klaren Formgebung, die es per se verlangt.

Was den Themenkreis des Labyrinths und der mit ihm verbundenen sagenhaften Figuren anbelangt, so ist Günter Wagner mit seinem dezidierten Interesse nicht allein. Pablo Picasso, Friedrich Dürrenmatt, Joan Miró haben sich mit Stoff und Motivwelt in ihrer Kunst beschäftigt und auch die Zahl der aus historischer Zeit überkommenen Labyrinthe – zumeist Steinsetzungen – ist erstaunlich. In Skandinavien, Russland und dem Baltikum sind über fünfhundert solcher Zeugnisse erhalten, das älteste aus dem dreizehnten Jahrhundert, die meisten aus der Zeit zwischen 1500 und 1650. Berühmt ist das große Bodenlabyrinth von Chartres, das Mosaik an einer Säule des Doms von Lucca oder das Lichterlabyrinth im Dom zu Salzburg und auch heute noch entstehen viele traditionelle Freiland-Labyrinthe. Die Vorstellungen, die sich mit dem Labyrinth verbinden, kreisen um ein Urbild des Menschen, das Ausdruck seiner geistigen Orientierung in der Welt ist, seiner Neugier, aber auch der Angst vor dem Irren. Ein Symbol der Sinnsuche menschlicher Existenz allgemein und des unüberschaubaren individuellen Lebenswegs im Speziellen.

Günter Wagner hat in seiner sechsteiligen Minos-Serie das Motiv des Labyrinths in unterschiedlichen Ausformungen mit Sandstrahlung in 40 x 30 cm große Glasplatten eingraviert. Es sind Adaptionen des in vier Quadraten entwickelten römischen Labyrinths sowie selbst entwickelte Labyrinthe, deren Wege nicht immer zum Zentrum der Anlage führen. Deutungsgeschichtlich ist das gerade gut, denn dort liegt die todesbringende Erkenntnis des Sinns, die wohlweislich am Ende des Lebens(wegs) steht. In der Dopplung des Labyrinth-Motivs, das sich auf das einfallende Licht auf der Wand dahinter als Schatten noch einmal findet, wird deutlich: Der Weg ist das Ziel. Dem schwebenden, veränderlichen Charakter dieser Konstellation ist mit den patinierten gusseisernen Quadern ein Gegengewicht geschaffen. Sie sind auf der Glasfläche über den drei quadratischen und den drei runden Labyrinthen angebracht, unverrückbar, kompakt, schwer, der Erde zugehörig. „Die rohe Quadratform des Gusseisens unterstreicht einerseits den archaischen Charakter des unter ihr liegenden Labyrinths, kann andererseits aber auch eine gewisse Schutzfunktion für das zarte sandgestrahlte Labyrinth übernehmen, allein schon dadurch, dass es nach vorne über die Glasplatte hinausragt. Die von vorne unsichtbare Wandbefestigung verleiht den Arbeiten trotz ihres nicht unbeträchtlichen Gewichts einen schwebenden, transzendenten Charakter“, so Günter Wagner.

So wird an diesem Ensemble in besonderer Weise Günter Wagners Umgang mit dem Raum, sein Arbeiten in Gegensätzen und mit Sinnbezügen deutlich. Die Labyrinthe unserer Zeit, die uns ihre Bedeutung nur erkennen lassen, wenn wir ihren Zugang finden, sind etwa der QR-Code oder der Barcode für den Preis von Waren. Davon hat sich Günter Wagner zu der monumentalen Tuschezeichnung an der gegenüber liegenden Wand inspirieren lassen. Sie ist erst kurz vor Ausstellungsbeginn fertig geworden und wir dürfen gespannt sein, ob er daraus eine Werkreihe in einer eigenen Formensprache entwickelt.

Günter Wagner ist in Karlsruhe geboren und absolvierte seine Ausbildung an der dortigen Staatlichen Akademie für bildende Künste, nachdem er zuvor ein Studienjahr an der Universität Marburg verbracht hatte. Er wohnt und arbeitet in Bruchsal und ist unter anderem Mitglied im Künstlerbund Baden-Württemberg. Seit Mitte der achtziger Jahre ist er mit seinen Werken im Kunstleben präsent, deutschlandweit sowie in Frankreich, Italien, den Niederlanden, Belgien, der Schweiz und Österreich. Er ist aber nicht nur in eigener Sache, sondern im Dienst der Kunstförderung und Kulturarbeit allgemein sehr aktiv. Sein Engagement und sachkundiges Urteil tragen den Ausstellungsbetrieb des Kunstvereins Bruchsal und sind in vielen Jurys geschätzt.

Martina Wehlte

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