Meine Damen und Herren, liebe Kunstfreunde,

Angela Flaigs Ausstellung ist ungewöhnlich, obgleich ihre klare, puristische Formensprache und die akribische Ausführung ihrer vegetabilen Werke durchaus gut in die Ausstellungsreihen des Kunstvereins Bruchsal passen, der immer wieder ganz eigenartige, so noch nicht gesehenen Positionen vorführt.Warum auch nur mit Stift, Pinsel und Farbe auf Leinwand oder Papier arbeiten, warum nur traditionell mit Stein, Metall oder Holz? Die Künstler des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelten grundlegend neue Konzepte, entdeckten nicht nur verschiedene Formensprachen gegenstandsloser Kunst sondern auch neue Materialien, industriell gefertigte, wie den Kunststoff, auf der einen Seite, Naturstoffe wie Leder, Blut, Exkremente, Nahrungsmittel auf der anderen. Die Suche nach neuen Ausdrucksformen führte zu naturferner Technik, Video- und Lichtinstallationen, elektronischen Klangkörpern, Computerkunst, aber auch zur Land Art, zu Werken aus Wasser und Erde, Schlacke und Asche, Sand und Pflanzenteilen: Einer Hinwendung zum Elementaren, zur Kraft des Unscheinbaren, zum Werden und Vergehen im Naturkreislauf, zum Unkalkulierbaren natürlicher Prozesse und ihrer Spuren, zum Stillstand von Zeit in der kontemplativen Anschauung eines Kunstwerks. In diesem Spektrum ist auch Angela Flaig zu sehen, deren frühe Arbeiten Faltungen und Faltspuren der 1970er Jahre sind: Arbeiten aus Vlies und Kohlepapier mit Asche, Rostspuren, dem Abrieb von Kirschkernen oder Steinen. Nach ihrem pädagogischen Studium in Rottweil, auch heute ihr Wohn- und Arbeitsort, unterrichtete Angela Flaig damals an Grund- und Hauptschulen. Sie gab die Lehrtätigkeit 2011 auf und konnte sich nun ganz dem künstlerischen Schaffen widmen, unter anderem mit zwei Arbeitsaufenthalten in Sigmaringen und auf Elba, und einer regen Ausstellungstätigkeit. Für ihr bisheriges Werk wurde ihr in diesem Jahr, 2018,  der Anerkennungspreis der Kulturstiftung Rottweil verliehen.
Aktuell richtet Angela Flaig ihr Interesse nicht mehr auf die Spuren von Asche, Eierkohle, Sand oder Fruchtkernen auf Papier bzw. Stoff. Ihr Material sind Samen, wie sie im Frühjahr und bis in den Juli hinein durch die Luft schweben. Die klare Formensprache der Werke, die sie aus den zarten Flugobjekten der Natur schafft, ist geblieben, ebenso wie das Arbeiten in Serien, also das Wiederholungsprinzip mit leichten Variationen.  Rechteck und Kreis sind die  äußeren Grundformen, Reihung und Schichtung geben die Binnenstruktur. Organische Materialien entdeckte die Künstlerin in den frühen 1990er Jahren für sich, wobei sie aus Körnern, Blättern und Blüten Naturzeichnungen, Halbkugeln oder Schalen schuf. Seit Mitte der neunziger Jahre tauchen Samen als zentrales Arbeitsmaterial auf. Angela Flaig sammelt sie im Wald und auf Wiesenstücken, ist mit ihnen seit der Kindheit in ländlicher Umgebung vertraut. Ihr Arbeitsansatz lässt sich am ehesten in die Nähe des Niederländers Herman de Vries rücken. Auch er nutzt Fundstücke aus der Natur, Pflanzen mit heilkundlicher oder psychedelischer Wirkung, die er konzeptionell reiht. Allerdings greift er auch in den Landschaftsraum ein, indem er ein Stück Boden umzäunt und dem Wildwuchs freien Raum gibt, um so ein Bewusstsein für die Eigengesetzlichkeit der Natur zu schaffen. Vor kurzem sorgte in Stuttgart der Radikalschnitt seines Sanctuariums an dem innerstädtischen Verkehrsknotenpunkt Pragsattel für Aufregung.
Bei Angela Flaig gibt es keine Verlinkung zur Land Art und auch ein fortdauernder Wildwuchs ist in ihren Arbeiten ausgeschlossen. Sie konserviert die Natur in einem bestimmten Entwicklungsstadium und transformiert sie in den Bereich der Kunst. Die feingliedrigen, äußerst fragilen Samen arrangiert sie nach streng geometrischen Mustern in Reliefs oder verdichtet sie mit unendlicher Geduld in schlichten gegenständlichen Formen, etwa in Schalen, Halbkugeln, Kegeln, Pyramiden und Säulen. Durch minimale gestalterische Eingriffe, mit wenigen, ausgewählten Materialien und in einer klaren Formensprache erschafft die Künstlerin stille und zurückhaltende Werke, die auf jegliche expressive Effekthascherei verzichten und zur Kontemplation einladen. In sich ganz organische Natur, gehorchen die Arbeiten einem künstlerischen Ordnungswillen, der zu einer Symbiose des Naturschönen mit dem Kunstschönen führt. Sie lenken den Blick auf die Mikrostrukturen der Natur und sensibilisieren für eine direkte, unmittelbare Schönheit, die wir allzu oft übersehen. Wer staunend im Rasterelektronenmikroskop die Oberfläche eines Blattes sieht, glaubt sich in  einer fremden, bizarren Welt. Und der zweitausendfach verlangsamte Ausstoß von Samen schießt als Fontäne kleiner Kügelchen aus dem Inneren von Blütendolden hervor, als hätte man die Eruption eines Vulkans vor Augen. Pflanzen haben alle Lebensräume auf der Erde besiedelt, sei es die Wüste, seien es Eisregionen, sei es der Asphalt. Sie haben zwar keine Beine, sind aber durchaus beweglich und erobern die Welt mittels verschiedener Fortpflanzungsmethoden und Lebensgemeinschaften, Symbiosen.
Was wir an den Schirmchen, Haaren und Federchen des kleinteiligen Naturstoffs und Kunstmaterials Angela Flaigs als filigrane Schönheit bewundern, erfüllt zugleich und primär einen arterhaltenden Zweck, nämlich die Flugfähigkeit der Samen und den Schutz vor Kälte. Auf einem Spaziergang im Frühling oder Sommer lassen sich die in der Luft schwebenden Flusen mit ihren Samenkernen beobachten. Angela Flaig sammelt die noch geschlossenen Kapseln und bewahrt sie trocken und eng gelagert auf, bevor sie platzen. Sind sie dann geöffnet, so wird ihr flauschiges Inneres in Kartons aufbewahrt und wenn man die Hände in einen luftig-leichten Berg solcher Samen steckt, so ist augenblicklich eine Wärme zu spüren, wie wir sie auch von Daunenbetten kennen. Über das Verhältnis zwischen Natur und Kunst im Sinne von Vorbild und Abbild ist seit jeher viel theoretisiert worden und Naturstoff, sei es als Stein, Holz, Farbe oder anderem, ist das Arbeitsmaterial des Künstlers. Aber dieses Material gibt im Werkprozess ein Gutteil seiner Eigenständigkeit auf; die Konsistenz des Steins, die Maserung des Holzes, die kühle oder warme Farbigkeit müssen sich der künstlerischen Intention, dem Formwillen, einordnen. In den Samenbildern und –objekten von Angela Flaig hat man hingegen nie den Eindruck, der Naturstoff sei nur zweckdienlich. Im Gegenteil: ob es ein Gespinst aus unzähligen, miteinander verklebten Samen ist, wie in der Distelschale, oder ein Wandobjekt mit einzeln aufgebrachten, vorsichtig auseinandergespreizten Samen – immer ziehen die kleinen Naturbausteine den Blick an. Und in der Nahsicht erstaunt man vor der Zartheit und Eigenart der Erscheinung, der unterschiedlichen Struktur und Farbigkeit. Da ist das Weiß des Flaums um den Distelsamen und der deutlich dunklere Ton des Haars um den Waldrebensamen. Da sind die strahlenförmig ausgefächerten Fädchen der Samen in der einen Arbeit, die als Strähnen ineinandergeflochtenen in der anderen. Die Kunst der Natur und die menschliche Kunst gehen hier Hand in Hand und schaffen vielgestaltige Werke, die den Betrachter für Nuancen sensibilisieren.
So kunstvoll das Naturmaterial selbst schon ist, kommt es doch erst durch die Künstlerin in einen komplexen ästhetischen Zusammenhang und damit zu ganz neuer Wirkung. Kompakt und doch von luftiger Leichtigkeit ist das Kugel-Arrangement von der Raumdecke herab, das von jedem Windhauch bewegt wird. Andere Objekte haben dagegen hohe Transparenz und durchatmen den Raum geradezu, nehmen ihn auf sanfte Weise in Besitz, lassen ihre Körper vom Licht durchscheinen. So kleinteilig die Objekte Angela Flaigs aufgebaut sind, so ruhig und geschlossen wirken die Kompositionen in Form von Quadrat und Kreis, Kugel, Quader oder Zylinder. Die Beschränkung auf geometrische bzw. stereometrische Formen bringt das große Ganze eines Werks als klare Einheit in Gegensatz zu den kleinen filigranen Bauteilen, die sorgfältig geordnet auf- und nebeneinander gesetzt sind. So besteht eine Spannung zwischen der ruhigen, einfachen Gesamtform und der komplexen Binnenstruktur. Gerade an den Wandarbeiten aus unterschiedlichen Samen – der Nickenden Distel, dem Weidenröschen oder dem Löwenzahn – lässt sich beobachten, wie unterschiedlich dicht sie von der Künstlerin in die Komposition eingebracht worden sind und – davon abhängig – in welchem Maße sich das Licht in ihnen verfängt. Auch hier zieht es den Betrachter zur Nahsicht und je näher man den Werken kommt, desto besser lässt sich die vermeintliche Fläche als konkave oder konvexe Wölbung erkennen.
Jeder Samen ist mit der Pinzette einzeln aufgebracht; eine akribische Arbeitsweise, die nicht nur viel Geduld sondern auch Erfahrung voraussetzt, ein Versenken in den Werkprozess, wie es auch ein Versenken in die Werkbetrachtung bedingt. Den homogenen Objektkörpern, denen wir uns bisher gewidmet haben, stehen gleichmäßig aufgereihte Samen in bildmäßigen minimalistischen Arbeiten gegenüber, die sich zwischen Konzeptkunst und naturkundlichem Schaukasten verorten lassen. Sie zeigen Kiefern-, Zedern oder Piniensamen, individuelle Arten in serieller Strenge. Wie verschieden ist ihre Konsistenz und ihre Wirkung im Werk. Nicht nur über das Verhältnis von Kunst und Natur gilt es angesichts der faszinierenden Ausstellung von Angela Flaig zu sinnieren sondern auch über das Verhältnis von Mensch und Natur. In dem aufschlussreichen und mit wunderbaren Fotografien illustrierten Buch Das geheime Leben der Bäume von Peter Wohlleben stellt der Autor die Frage. „Warum fällt es uns so viel schwerer, Pflanzen zu verstehen als Tiere?“ Eine sinnvolle Frage, wenn man zuvor seine Ausführungen gelesen hat. Eine sinnvolle Frage auch, wie ich meine, wenn man diese Ausstellung gesehen hat, in der Angela Flaig auf ganz besondere Weise Kunst und Natur in einen Dialog gebracht hat. Vielleicht fördert sie ein wenig die Wertschätzung der Pflanzen um ihrer selbst willen, gerade jetzt, wo wir uns über die herumfliegenden Samen und den Blütenstaub auf Fensterscheiben, Auto und Balkon eher ärgern.

 

Martina Wehlte

 

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