„Die Moral und der gute Geschmack sind ein altes Ehepaar, ihre Kinder heißen Dummheit und Langeweile“, so wird der französische Künstler Francis Picabia zitiert; und viele Leute teilen wohl seine Meinung. Warum sonst hätten Skandale in den Medien immer Konjunktur? Manche Prominente leben davon, andere kosten sie Kopf und Kragen, – ein Ereignis fürs Publikum sind sie allemal. Es ist eine schmale Gratwanderung zwischen dem, was allgemein als unannehmbar, tolerabel oder sogar skandalös gut gilt. Und es ist eine Frage der Zeit. Das zeigt für den Bereich der Kunst das Buch Skandalkunst. Zensiert, verboten, geächtet an prominenten Beispielen vom Mittelalter bis heute. Die beiden französischen Autorinnen Éléa Baucheron und Diane Routex erläutern, woran die Zeitgenossen Masaccios, Rodins oder Piero Manzonis konkret Anstoß genommen haben, und geben Hinweise, welche ethisch-moralischen Wertmaßstäbe die Epochen primär geprägt haben.
An Masaccios Fresko der Vertreibung aus dem Paradies von 1427 vermisste man die allegorische Verbrämung, die einer mitfühlenden, ungeschönten Darstellung der beiden verzweifelten Menschen gewichen war. Mit schmerzverzerrtem Gesicht blickt Eva in eine ungewisse Zukunft, während Adam die Hände vors Gesicht geschlagen hat. Alle Aufmerksamkeit richtet sich auf die bildfüllenden Figuren, während der über ihnen schwebende Engel mit dem Schwert eine untergeordnete Rolle spielt. Die Größenverhältnisse, die sich in der mittelalterlichen Kunst nach der religiösen Bedeutung richteten, folgen dem identifikatorischen Interesse des Betrachters, den die Szene in eine Naturlandschaft mit Schatten und Perspektive versetzt. Zweieinhalb Jahrhunderte später erregte die Nacktheit der Figuren Anstoß und führte zu Übermalungen, wie es schon zuvor bei Michelangelos Jüngstem Gericht der Fall gewesen war. Zwar hatte Michelangelo das nicht selbst vornehmen müssen, doch wurden nach seinem Tod Daniele da Volterra und andere Künstler mit vermeintlichen Korrekturen beauftragt. Erst im Zuge der Restaurierungen in den 1980er Jahren, wurde der jeweilige Originalzustand der Werke wiederhergestellt.
Es ist nichts Neues, dass religiöse Themen gerne zum Vorwand für erotische Darstellungen genommen wurden, sei es ein sinnlich anziehender Heiliger Sebastian oder Berninis Marmorskulptur der recht diesseitig entrückten Theresa von Avila, entstanden 1647-1652. Auch heute noch ist die Empfindlichkeit in Glaubensfragen groß, wie das in den Urin des Künstlers getauchte Kruzifix von Andres Serrano Immersion. Piss Christ von 1987 zeigt. Purer Hohn auf den Gottessohn und auf die Gläubigen? Das Werk wurde nicht nur heftig diskutiert sondern auch von Radikalen attackiert. Man darf vermuten, dass selbst in unserer säkularen Zeit die Sensibilität in Glaubensfragen vor dem Hintergrund eines Diskurses mit anderen Religionen, insbesondere dem Islam, keineswegs abnehmen wird. Leider enthalten sich die Autorinnen weitgehend der Stellungnahme zu den Werken und ihrer Rezeption durch das Publikum. Gerade für Arbeiten der Gegenwart ist aber eine kritische Reflexion und Wertung statt einer rein deskriptiven Bestandsaufnahme zu erwarten. Am Beispiel des Piss Christ vermisst man auch ein abwägendes Urteil gegenüber dem Filmstill aus David Wojnarowicz’s Video A Fire in My Belly, der – ebenso skandalträchtig – ein Kruzifix mit darüber krabbelnden Ameisen zeigt, – ein Sinnbild für das Aidsleiden seines Lebenspartners.
Waren im neunzehnten Jahrhundert insbesondere politische und gesellschaftskritische Themen brisant, so reagieren wir heute, wo medial alles machbar und schnell zu verbreiten ist, besonders allergisch auf mögliche Verletzungen der Menschenwürde, Ausbeutung von Kindern und Tierquälerei. Es sei dahingestellt, ob Damian Hirsts For the Love of God (Um Himmels Willen) von 2007 die Menschenwürde verletzt oder nur ein Zeugnis dekadenter Verschwendungssucht ist. Der mit 86501 Diamanten besetzte Platinabguss eines menschlichen Schädels hat einen Wert von etwa fünfzehn Millionen Euro. Eine unglaubliche Summe, doch in den Tresoren reicher Kunstfreunde und den Schatzkammern öffentlicher Sammlungen befinden sich Werke ähnlicher Größenordnung. Worin also liegt das Skandalöse? Im Motiv eines Totenkopfes? Statt einer demütigen Ermahnung, an die Vergänglichkeit zu denken und das Leben per se wertzuschätzen, ästhetisiert Damian Hirst das Memento Mori und bricht damit ein Tabu. An die Stelle des Erschauderns vor dem Tod setzt er das Staunen über eine physische Schönheit des Todes, an die Stelle körperlichen Zerfalls setzt er dauerhafte Konservierung: eine Herausforderung an das Begrenzte allen Lebens, eine Überhöhung des Vergänglichen oder auch ein Sakrileg des Sarkasmus.
So überraschend es ist, in dem Skandalkunst-Band auch auf Gunther von Hagens Plastinate zu stoßen, so folgerichtig ist der Schritt von Damian Hirsts Schaffen aus und im Kontext eines erweiterten Kunstbegriffs. Zu welchen Auswüchsen das allerdings führt, kann man an Wim Delvoyer erkennen. Der Belgier lässt in China Schweine züchten, unter Betäubung großflächig tätowieren und deklariert ihre Haut nach der Schlachtung gerahmt als Kunstwerk. Das Tier als verfügbare Sache ist wohl ein Skandal für Tierschützer doch ist die Aufregung angesichts unseres Umgangs mit Nutztieren heuchlerisch. Das Tier ist als Geschöpf Gottes allenfalls als verhätscheltes Haustier im Bewusstsein; darauf gibt Wim Delvoyer einen provozierenden Kommentar.
Ob es der entlarvende Goya war, der dramatisierende Gericault oder der zwischen Realismus und Sarkasmus changierende Otto Dix: Wann immer am Bild des Menschen als der Krone der Schöpfung gekratzt wurde, ging ein Aufschrei der Empörung durchs Publikum. So auch heute vor den erschreckenden Mischgeschöpfen Xiao Yus, der die Körperteile unterschiedlicher Lebewesen zu neuen Kreaturen zusammensetzt. Aber macht er nicht das anschaulich, was wir in den weltweiten Genlaboren wohl befürchten müssten zu sehen? So ist die Skandalkunst, so verkaufsträchtig sie auch orientiert sein mag, immer ein Stück weit das, was ihre Zeit verdient.

 

 

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