Meine Damen und Herren,
der anspruchsvolle Titel unserer großen diesjährigen Sommerausstellung enthält ein Zitat aus Johann Wolfgang von Goethes Faust, Der Tragödie Zweiter Teil: „Das Unbeschreibliche, hier ist’s getan. Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan.“ Die Zeilen, die am Ende des Werkes vom Chorus Mysticus vorgetragen werden, hat der Bildhauer Hans Scheib ausgewählt und vielleicht empfinden Sie als Besucher das Unbeschreibliche und Ewig-Weibliche vor ihren Augen als geradezu profan, alltäglich und denken eher an Botticellis Venus oder an die schimmernde Haut, die üppigen Formen der Rubens-Damen. Sicher, die multiple Nacktheit der weiblichen Holzfiguren von Hans Scheib, die kaum auf einen Blick zu erfassenden Gemälde Michel Meyers überraschen, irritieren. Ist es das, was Goethe sich als das Unbeschreibliche und Ewig-Weibliche vorstellte? – Lassen Sie uns nicht vergessen, dass wir die Heroen der Geistesgeschichte in unserer Bildungstradition auf einem hohen Sockel präsentiert bekommen, gerade auch die Vertreter der Klassik, die durchaus keine weltfremden, unwandelbaren Idealisten waren.

Als im ersten Akt des Faust II dem Protagonisten der Geist Helenas erscheint, lässt der Autor eine Hofdame sagen: „Ich merke schon, sie nimmt ihn in die Lehre; In solchem Fall sind alle Männer dumm, Er glaubt wohl auch, dass er der erste wäre.“ Es ist der ältere, lebenserfahrene Dichter, der seiner Figur diese Worte in den Mund legt. Spöttisch, mit kopfschüttelnder Abgeklärtheit über vermeintlich stets libidinöse Männer und ihren vom Eros vernebelten Geist kommentiert diese Hofdame die Szene. Die Aussage gibt allerdings nur einen Aspekt des Ewig-Weiblichen, nicht aber zum Beispiel den Eros als schöpferisches Stimulans für den Künstler. Nicht die Liebe als Seins-Prinzip im Unterschied zum Faustschen Titanismus; nicht eine Anziehungskraft, die tiefer geht als nur bis zu oberflächlicher Makellosigkeit, Jugendlichkeit. Eine Anziehungskraft, die Schönheit ganz anders definiert. Nicht von ungefähr tauchen im fünften Akt des Faust Philemon und Baucis auf, der Inbegriff eines Paares, das in Liebe zusammen alt geworden ist.

Eine zeitgemäße Interpretation dieses Themas findet sich, wie ich meine, in Hans Scheibs Leporello Irene, einer Summe von Badeszenen, deren Nymphen und Flussgötter ersichtlich in die Jahre und aus der Form gekommen sind. Mit skizzierendem Strich, absolut sicher im Ausdruck, nicht sarkastisch sondern mit liebenswürdigem Blick und einer Prise Humor sind der kahlköpfige Dickbauch und die auseinanderquellende Badekappenträgerin aufs Papier gebracht. Jan Faktor hat die Sinnlichkeit ihrer Körper, die unveränderte Aufregung und Entdeckerfreude auch dieses Alters in eine hinreißende Liebeserklärung gefasst: „für mich stehst du immer noch auf jungen Füßen mit sichtbaren Strängen am Spann / die Knöchelgegend ist nicht vollgepumpt mit Flüssigkeiten / deine Sehnen spannen sich in Freiheit / wenn ich Glück habe, finde ich bei dir noch ein Sesambeinchen in einer Sehne und gleite an dir weiter mit dem Finger vom Sprunggelenk bis zur Kuhle hinterm Knie / dann über die Muskelstränge deines Schenkels zum Reich der Mitte / …. Mit meinem Ohr auf deinem Ohr höre ich jetzt das gleiche wie du“.

Steht sie nicht hier in ihrem gelben, gepunkteten Badeanzug über dem gewölbten Bauch und den hängenden Brüsten, diese Irene? Gesicht und Hals gehen konturlos ineinander über, die Bademütze sitzt wie eine Pappkappe. Was auf den ersten Blick als karikierte Realität in Schwimmbädern und an Stränden erscheinen mag, wirkt durchaus nicht hässlich: Mit der Kappe und den Schuhen korrespondieren die himmelblauen Augen, die zusammen mit dem roten Mund das Doppelkinn und die platte Nase vergessen machen. Die Darstellung hat nichts Verletzendes, auch diese Frau hat ihre Reize. Die Schönen von Hans Scheib bieten die ganze Bandbreite weiblicher Erscheinung, von der bekleideten aufrecht sitzenden Studentin bis zu den drei Akten in einiger Entfernung ihr gegenüber; von der lustvoll sich streckenden Stripperin bis zur schamvollen Bella (2003). Die Frau, speziell der Akt, ist das Thema des Holzbildhauers Hans Scheib, der 1971-76 an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden studierte, danach als freier Bildhauer zunächst in Ost- dann in Westberlin arbeitete, wo er bis heute sein Atelier hat.

Von Beginn an war Holz sein Material und seine eindrucksvollen Werke befinden sich unter anderem im Dresdener Albertinum, der Mannheimer Kunsthalle, dem Museum Ludwig in Aachen, der Nationalgalerie Berlin, in der Sammlung des Deutschen Bundestages, der Deutschen Botschaft in Washington, in Banken und im öffentlichen Raum. Neben der Skulptur ist die Kaltnadelradierung sein bevorzugtes Medium und es finden sich in dieser Technik Porträts von Oskar Lafontaine, Helmut Kohl und anderen prominenten Politikern; wunderbare Pferde, Affen, Hunde, Katzen; Hyänen und Totenschädel. Im Aquarell, kombiniert mit Farbstift, erfasst er mit wenigen Pinselzügen und Linien nicht nur die Physiognomie sondern auch die Stimmung, die seelische Befindlichkeit der Dargestellten, gibt einen Akt in sparsamen Farbnuancen derart, dass er plastisch vor den Augen des Betrachters liegt, weiches gerundetes Fleisch, helle Haut. Die Skulpturen der achtziger, neunziger Jahre sind expressiv-bewegt, oft gewaltsam, wild schmerzverzerrt, wie beispielsweise eine gebundene Hexe oder das auf den Rücken gestürzte Pferd, das von einem Raubtier angefallen wird, Themen, die ihre Tradition in der Plastik und Malerei von Delacroix bis ins Barock haben. Daneben steht der weibliche Akt, der nicht auf ein Schönheitsideal hin proportioniert ist sondern naturgemäß – mit zu dünnen Beinen oder flachem Busen, versonnen, neugierig blickend, Mädchen, Frau; Christin mit Kreuzamulett oder Asiatin. Es ist die Frau schlechthin, wie sie auch in dem Kreis von neun Frauen in der Mitte unseres Ausstellungsraumes verkörpert ist. Die mit dem muslimischen Kopftuch versehenen Akte stehen in derselben aufrechten Haltung wie sie die meisten von Hans Scheibs Akten einnehmen und die nichts Aufreizendes hat. Sie haben individuelle Gesichter, verschieden farbige Körper, lackierte Fußnägel. Während das Haar als sinnlicher Anziehungspunkt verhüllt ist, ziehen Brust und Scham die Aufmerksamkeit auf sich. Eine Provokation ist das nicht; das würde gar nicht ins Oeuvre des Künstlers passen, der vor einem guten Jahrzehnt 12 seiner Akte wie weibliche Apostel in der Berliner Nikolaikirche hat aufgereiht hatte. Zwischen Mater Dolorosa und Vamp, züchtigem Rollkragenpullover und den halterlosen Strümpfen der Auf Tischen Tanzenden liegt ein wahrhaft breites Spektrum. Auch konterkariert Hans Scheib die Kunstgeschichte mit seiner Darstellungsweise: Vor dem Arrangement von Jane, Ruth und Alma kommen einem die drei Göttinnen im Wettstreit um Paris‘ Gunst in den Sinn. Die Farbe auf den bloßen Körpern der Figuren von Hans Scheib betont und stabilisiert einzelne Partien optisch, macht die Haut lebendig, zeigt ihre Makelhaftigkeit und verhindert den Eindruck von Idealität.

Bei meinem ersten Besuch in der Ausstellung habe ich mich nach einem Rundumblick im Raum – vielleicht nicht zufällig – einem kleineren einfigurigen Gemälde von Michel Meyer zugewandt. Die großen Leinwände bieten keine sofortige Orientierung sondern verlangen ein Einsehen in das Nebeneinander, In- und Übereinander von Figuren, die über unterschiedliche Farbpartien gelegt sind, gemalt, gezeichnet, teils schemenhaft belassen, mit Schrift und Zahlen zu skriptural-malerischen Kompositionen entwickelt, die man gewissermaßen lesen muss, um sie sich zu erschließen. Ich habe mich also in das En-face des Romeo auf sattem blau-türkisfarbenem Grund vertieft. Ein sehr junger, fast somnambul wirkender Romeo, der als Büste gegeben ist, wie es typisch für Michel Meyers Figuren ist, die auch nur mit ihrem Kopf erkennbar präsent sein können. In die feuchte Malmaterie hat der Künstler senkrechte und waagerechte Linien geritzt, so dass die Fläche einen Eindruck von der körperhaften Physiognomie des Halses gibt. Der Oberkörper erscheint flach, verwischt, der Kopf mit seitlich abstehenden Ohren zeichnerisch strukturiert auf der linken Seite, rechts flächig gehalten mit einer dunkleren, kreisrunden Partie für das Auge. Der Mund hat eine etwas diffuse Form mit gleichwohl dunkelroten sinnlichen Lippen. Die kindlich krakeligen Druckbuchstaben verstärken den Eindruck von einem etwas hilflosen Romeo: ein blasser Kerl im wahrsten Sinne des Wortes, ephemer, jung leidend an der verbotenen und verhinderten Liebe.

Nach seinem Diplomabschluss eines Studiums in Kommunikationsdesign und Illustration begann Michel Meyer 1985 als freischaffender Künstler in Weinheim zu arbeiten und hat seitdem deutschlandweit an zahlreichen Ausstellungen teilgenommen. Er legt seine Kompositionen in Farbflächen an und zeichnet mit dem Pinsel Silhouetten darüber. Das alles ausschnitthaft, – man erkennt violettes Profil, einen grünen Arm, eine Hand, zwei Köpfe im Hintergrund, ineinander geblendete Gesichter, ohne den Raum erfassen zu können. Entourage zeigt den humorvollen Blick, den der Maler auf seine Mitmenschen richtet. So unscharf auch dieses Gefolge einer illustren Persönlichkeit in seiner äußeren Erscheinung gegeben ist, so lassen sich doch weiche, beschützenswerte Wesen erkennen. Den Ausflüglern in dem Gemälde Wir wollten aufs Meer ist anzusehen, wie traurig, und enttäuscht sie sind. Die Öl- und Acrylgemälde stammen hauptsächlich aus den vergangenen fünf Jahren und der in Weinheim lebende Künstler malt sie zumeist parallel. Eine Ausnahme bilden die Zaungäste, die in einem Zug gemalt wurden und gut die unterschiedlichen Reaktionen der Beobachter eines Geschehens erkennen lassen: Erstaunen,, Entsetzen oder stumme Verschlossenheit. Die Kompositionen wirken oft wie Erzählungen, haben kein Bildzentrum sondern lassen das Auge über die Leinwand wandern. Dabei fallen karikierende Züge auf, skurrile Typen, vermenschlichte Tiere oder tierhafte Menschen, Sprechblasen, eine originelle Kunst des Weglassens wie im Virtuellen Akkordeon, wo an der Armhaltung der Figuren das nicht sichtbare Instrument zu erahnen ist. Dazwischen Haussilhouetten, herabfließende transparente Farbe, gedämpfte Töne. Daneben findet sich ausgesprochen Schrilles, starkfarbige Segmente, aus denen sich erst allmählich Augen, Nase, Haare herausschälen. Werfen wir einen Blick auf das quadratische Bild mit der Blondine im roten Mini rechts unten, mit der uns zugewandten Rothaarigen im rosa Kleidchen, neben ihr frontal ein schwarzes Antlitz. Es wimmelt von Gesichtern, die etwas Fratzenhaftes haben, die verträumt oder entspannt wirken. Ein Panoptikum menschlicher Existenz, das allerdings nie abstoßend oder gemein wirkt sondern als Sammelsurium eigenwilliger Existenzen gegeben ist. Malerisches verbindet sich mit Zeichnerischem, das im Strich spontan und skizzenhaft wirkt. Die oft zweiteilig gegebenen und nur grob umrissenen Gesichter ergänzt der Betrachter in seiner Ein-bildung, womit wir wieder bei Goethe wären und dem Unbeschreiblichen wesensmäßiger Existenz, dem Gleichnis- und Ereignishaften.
Martina Wehlte

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