Sophie Lichtenberg, geboren 1989 in Hamburg, studierte von 2010 bis 2017 an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe Szenografie, Ausstellungsdesign, kuratorische Praxis, Medienkunst und Kunstwissenschaft. Sie arbeitet als freie Künstlerin und Szenografin, gehört dem 2005 gegründeten Heidelberger Künstlerkollektiv Theater Performance Kunst RAMPIG an und schloss sich 2016 mit Lea Langenfelder zu dem Künstlerinnenduo Langenfelder  Lichtenberg zusammen. Von Lea Langenfelder stammen auch die eindringlichen, in reduzierter Form gehaltenen Texte zu dem Projekt Kinder der Olympe, einer szenisch auf mehrere Räume verteilten Installation, die Sie im Damianstor sehen werden. Der Titel des Ausstellungsprojekts, das man übrigens als work in progress bezeichnen darf, der Titel sollte sie keinesfalls niedlich herausgeputzte Kinderchen oder gar Engel in den Wolken des griechischen Götterhimmels erwarten lassen. Der Olymp, der die Sterblichen von den Göttern trennende Weltberg, ist durchaus mitgedacht, aber in einem absolut innerweltlichen Sinne. Seien Sie von dem Thema, seiner inhaltlichen Erweiterung und seiner künstlerischen Umsetzung nicht geschockt. Hinter der Erscheinung der zierlichen Person Sophie Lichtenberg steht eine kritisch reflektierende, gestaltungsstarke und innovative Künstlerin, die sich wohltuend abhebt vom Mainstream der Gegenwartskunst, der kaum gesellschaftsrelevante Themen aufgreift.

Werfen wir zunächst einen Blick auf die Inszenierungen der Gruppe RAMPIG. Ihre Mitglieder wohnen in verschiedenen Städten und arbeiten projektbezogen zusammen, wobei auch von Fall zu Fall Gastkünstler mitwirken. Die Gattungsgrenzen sind fließend. Soll man von einer Performance oder einem freien Theaterstück sprechen? Von einer Installation oder einem Bühnenbild, das Sophie Lichtenberg für die Projekte von RAMPIG schafft? Auch die Grenzen zwischen den Akteuren und den Zuschauern sind aufgehoben, wodurch die Wirkung der ohnehin schweren, verstörenden Stoffe noch intensiviert wird. Da sind in zeitlichem Rückwärtsgang freie Inszenierungen zu folgenden literarischen Werken aufzuzählen: 2018 In der Strafkolonie von Franz Kafka, aufgeführt in einem seit längerem leer stehenden Gebäude in der Nähe des Mannheimer Hauptfriedhofs; im Jahr 2015 Dostojewskis Schuld und Sühne auf dem verlassenen US-Militärgelände Benjamin-Franklin-Village in Mannheim, sodann Kafkas Roman Das Schloss und im Jahr 2012 Hamlet, 2011 Albert Camus‘ Pest, 2010 Faust I und im Jahr zuvor Kafkas Verwandlung. Mithin eine prominente Auswahl dessen, was man salopp als schwere Kost bezeichnet. Es geht in diesen Werken um existentielle Fragen, um das Schuldig-Werden , um psychische und physische Folter, um die vergebliche Suche nach Erkenntnis des Sinns in einer als gewaltsam und unüberschaubar erfahrenen Welt. Unabhängig von dem Künstlerkollektiv RAMPIG realisierte Sophie Lichtenberg in der Saison 2015/16 am Badischen Staatstheater das Bühnenbild für ein Stück der Regisseurin Beata Anna Schmutz, das im Rekurs auf Steven Pinker der Frage nachgeht, warum Gewalt ein Teil unserer menschlichen Existenz ist.

Die Zusammenarbeit von Sophie Lichtenberg und Lea Langenfelder als Künstlerinnenduo begann, wie ich schon gesagt habe, 2016. Daraus gingen 2017 zwei Projekte hervor. Im Juli 2017 war im Kunstverein Freiburg eine audio-visuelle Arbeit der beiden Künstlerinnen zu sehen, die um das Foto der amerikanischen Kriegsfotografin Hilda Clayton kreiste. Sie hatte 2013 in der Provinz Lagham in Afghanistan das US-Militär begleitet. Während einer Übungseinheit entzündete sich eine Mörsergranate und Hilda Clayton fotografierte die Explosion, durch die sie selbst und einige Soldaten starben. Lichtenberg-Langenfelder thematisierten die Unmöglichkeit, die Dramatik des Moments zwischen dem Davor und dem Danach oder Noch nicht und Nicht mehr, in diesem Fall den Todesmoment, zu fassen. Sophie Lichtenberg, die bei der Kooperation für die visuelle Umsetzung zuständig ist, zog damals wie auch in dem aktuellen Projekt Kinder der Olympe Found-Footage, d.h. gefundenes Filmmaterial, hinzu. Der Werktitel – und das ist typisch für Sophie Lichtenberg und Lea Langenfelder – führt zur Kernaussage des Stücks. Bei der Arbeit von 2017 ist das berühmte Zitat aus der Faust-Szene im Studierzimmer gewählt: „Werd ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch!“ Der Ausspruch endet, wie Sie wissen, „dann werd ich gern zugrunde gehn“. Das todbringende Versinken in einem großartigen Augenblick, das Verharren, das der Flüchtigkeit des Lebens widerspricht, ist Sehnsuchts- und Endpunkt in einem.

Ebenfalls 2017 präsentierten die Künstlerinnen ihre Gemeinschaftsarbeit Preenacting Reenactments, für die sie 9 Monate recherchiert, vor Ort im Ausbildungszentrum der Bundeswehr in Hammelburg beobachtet und Interviews geführt hatten. Es handelte sich bei dem in Berlin und Karlsruhe ausgestellten Projekt thematisch um ein von der Bundeswehr ausgerichtetes Training, das Journalisten auf die Arbeit in Krisengebieten vorbereiten soll. In dem Lehrgang simulieren Soldaten und Soldatinnen interaktive Kriegs- und Krisenszenarien. In der künstlerischen Bearbeitung des Themas werden die Macht und Wirkmechanismen inszenierter Erfahrungen reflektiert und es wird danach gefragt, wie Realität und Fiktion einander beeinflussen. Die Umsetzung ist eindringlich und beginnt mit der Einspielung: „Ich verspreche Ihnen, dass Sie hier vollkommen sicher sind. Willkommen in Hammelburg, in einer Fabrik der Fiktion.“ Man hört gleichbleibende, ruhige Töne, dann Schüsse, Aufruhr und den Satz „Ich bin kontrolliert böse. Du und ich sind verbunden in einem Reenactment deiner und meiner Realität, verbunden durch Endorphine.“ Was passiert in diesen Rollenspielen? Wie weit ergreift die Rolle vom Ausführenden, der ja kein professioneller Schauspieler ist, Besitz?

Das Projekt Kinder der Olympe, das Sie in den Räumen des Damianstores sehen werden, wurde als Initial- und Projektvorhaben in der Entscheidungsrunde 2 / 2018 vom Fonds Darstellende Künste gefördert. Dieser staatliche Fonds fördert seit 1988 Projekte aller Sparten der Darstellenden Künste, insbesondere alle Arbeitsfelder und künstlerischen Formen des professionellen frei produzierenden Theaters und Tanzes. Und damit ein experimentelles, im besten Falle innovatives Kunstgebiet. Kinder der Olympe Runde 1 – so die genaue Bezeichnung der über mehrere Räume sich erstreckenden Installation oder andersherum der installativen Kunstausstellung ­ Kinder der Olympe Runde 1 also ist Ausschnitt oder Zwischenstand einer fortlaufenden Recherche des Künstlerinnenduos Langenfelder & Lichtenberg: Wie auch in früheren Arbeiten recherchierten die Künstlerinnen sorgfältig und führten zahlreiche Interviews. Ihre Gesprächspartner waren sowohl Zeitzeuginnen und -zeugen des Profisports in der DDR als auch Experten aus den Bereichen Sport, Sportwissenschaft, Frauen- und Sportmedizin, Dopingforschung und ­Dopinggeschichte.

Thematischer Anknüpfungspunkt war eine spezielle Form des Dopings in den Kadern der Sportlerinnen: Das Schwängern von Spitzensportlerinnen im Hinblick auf einen sehr wichtigen Wettkampf mit planmäßiger Abtreibung nach dem Sport-Event. Der weibliche Körper wird in den ersten drei Monaten einer Schwangerschaft um 30% leistungsfähiger und man weiß um diesen Vorteil auch im Sport. Die Tennisspielerin Serena Williams beispielsweise gewann im zweiten Monat ihrer Schwangerschaft furios ein Grand Slam und gebar dann im September 2017 eine gesunde Tochter. Der veränderte Hormonspiegel, der für diesen besonderen Erfolgskick verantwortlich ist, gilt nicht als Doping, sobald eine Schwangerschaft nachgewiesen ist. Die siegorientierte Praxis von Zeugung und Abtreibung im Profisport beispielsweise in der DDR und der Sowjetunion wurde gelegentlich von Zeitzeugen kolportiert und z.B. von der Neuen Züricher Zeitung und der Berliner Zeitung aufgegriffen. Hinsichtlich tragfähiger Belege sieht es naturgemäß schlecht aus. Doch auch Poul-Erik Paulev von der Universität Kopenhagen berichtet in seinem Lehrbuch für Physiologie über derartige Praktiken in verschiedenen Ländern.

Der Titel der Ausstellung Kinder der Olympe ist also mehrdeutig: Er kann sich auf die Sportlerinnen als Kinder der höchsten Ruhmeshimmel beziehen und auf die ungeborenen Kinder, die als zellulare Organismen aus der Gebärmutter der siegreichen Olympionikinnen herausgeholt und entsorgt wurden – der Karriere geopfert. Die Ausstellung betrachtet folglich die Frau und ihren Körper unter dem Aspekt der Selbstbestimmung und Selbstverantwortlichkeit einerseits, der emotionalen Bindung, dem Vertrauen in die Trainer und Ärzte, dem unbedingten Wunsch nach Erfolg andererseits. Sie wirft die Frage nach dem Wert des Lebens auf, nach ethisch-moralischen Werten, wenn der Sport im Dienste der Politik steht. Was darf eine Gesellschaft vom Einzelnen erwarten und fordern? Darf alles ausgeführt werden, was machbar ist? Darf der Mensch auf eine Biomasse reduziert, ein Embryo als nicht nachweisbares Doping betrachtet werden?

Welcher Geist ermöglicht so ein kalkuliertes Vorgehen, wo sich doch auch die Psyche der Frau während einer Schwangerschaft verändert? Abtreibung war in der DDR keineswegs ein Tabu wie lange Zeit in Westdeutschland. Das mag einen aufkommenden Gewissenskonflikt entschärft haben. Und der Sport war identitätsstiftend, der Sieg war die Ehre des Staates. Individueller Ehrgeiz, das Verlangen nach Ruhm auf Seiten des Sportlers, die Erwartungen des Publikums, das am Sieg „seines Athleten/seiner Athletin“ partizipiert – das kennen wir nicht nur von Diktaturen, das gibt es auch in westlichen Demokratien und auch da gibt es gesundheitsschädliches Doping, siehe die Radsportler Armstrong und Ulrich. Sportliche Erfolge bedeuten Prestige und Geld, gesellschaftlichen Aufstieg. Und sportlicher Wettkampf dient nicht selten als ziviler Ersatz für den Kampf auf einem Schlachtfeld.
Die DDR konnte eine ausgesprochen erfolgreiche Bilanz ziehen: Ca. 4.000 Medaillen bei Olympia, Weltmeister- und Europameisterschaften in 40 Jahren DDR und das bei einer Einwohnerzahl von nur 17 Millionen!

In Ton und Organisation war der Sport militärisch ausgerichtet. Das zeigen im unteren Mittelraum der installativen Ausstellung Filmaufnahmen – Found Footage –von Turnerinnen und Sprinterinnen aus den siebziger Jahren, synchrone Bewegungen in der Gruppenchoreographie, zig Saltos, Vorbereitungen zum Laufstart. Eingeblendet sind in kleinen runden Bildern Jahre später geführte Interviews mit Sportlerinnen zu den Trainingspraktiken. Dazu hört der Besucher aus dem Off das Stakkato einer Sportlerin: „Willenstest, Leistungstest, Härtetest, Höhentest“, 30 Stunden Schule und zwanzig Stunden Sport, diszipliniert, ehrgeizig und dieses Bisschen besser sein als die Anderen; der Wille siegt. Und sie schwärmt: „Wenn die Hymne nur für dich gespielt wird, allein für dich und so ist das, wenn du da oben stehst …“.
Im Nebenraum ist an der Installation aus einem Gestänge mit aufgehängten Sportschuhen und dem Foto von einem nackten Modell zu lesen: „Ein Nehmen und Geben in Hingebung und Darbringung. Hier entsteht Zukunft, wir schenken Perspektive, sowohl dem Individuum, als auch einer Nation, unserer Nation. …Ein gestählter Körper macht sich bezahlt. … (und aus der Perspektive der Sportlerin:) Arbeit ist in Leisten messbar. Leistung ist in meine Leisten potenzierbar.“ Leisten, nicht Leistungen. Die Doppeldeutigkeit des Wortes ‚Leisten‘ spielt auf die Zeugung an und bereitet den Besucher auf die obere Etage der Ausstellung vor, in der Lea Langenfelder in ihren Texten die schwangere Siegerin im Wettkampf zur Göttin erhebt. Von Sophie Lichtenberg auf große Bahnen von Fahnenstoff gedruckt, sehen wir an der Wand eine hochschwangere Frau. In der Raummitte ist ein Laufband eingeschaltet, das zum Training auffordert. Gleichzeitig hört man ‚das kurze Lied zum langen Abschied‘ – ein Verweis auf Peter Handke – mit den Worten: „Es ist nicht leicht eine Göttin zu sein. Der Siegerin obliegt es, sich der Masse darzubringen. Entäußere dich … Was uns heute stärkte, wird uns morgen schwächen …“. Das alles wird recht leise und ruhig gesprochen, als würde es eine Opferhandlung beschwören, – bis dann die Entscheidung fällt: „Ende der Austragung – jetzt!“

Das Pathos der Texte steht in Gegensatz zu dem im Kabinettraum folgenden Video, in dem eine Frau unter der OP-Lampe auf einer Liege zu sehen ist. Der leere Raum, die Schlagschatten an der Wand vermitteln öde Trostlosigkeit, Gefühlsarmut. Im Film passiert nichts, während einzeln gesprochene Worte den Vorgang der Abtreibung nüchtern benennen. Wenn die schwangere Frau als Göttin der Fruchtbarkeit mythisiert wird, knüpft das an die antike Tradition an, in der das Kalenderjahr nach dem siegreichen Marathonläufer benannt wurde, der seine Kraft selbstverständlich von den Göttern verliehen bekommen hatte. Doch es ist nicht nur ein quasi-religiöser Mythos um den Sieg im Sport, letztlich ein Staatsmythos, der hier zur Sprache kommt, sondern auch das Moment des Kampfes – mit dem Sportler, der Sportlerin als Waffe in der Hand des Staates, mit dem Embryo als Patrone.

Das Künstlerinnen-Duo arbeitet konzeptionell und ihr Projekt Kinder der Olympe ist nicht abgeschlossen, Fernziel wäre ein Theaterstück, wie mir Sophie Lichtenberg gesagt hat. Ihr ideeller Ansatz, ihr Mut zu brisanten, auch künstlerisch schwer umsetzbaren Themen, ihr Erkenntnisinteresse, die Realisation im Raum und die eindrücklichen Bilder und Filmmontagen sind überzeugend. Ich freue mich, dass Sie, Sophie Lichtenberg, die erste Preisträgerin des neu gestifteten Preises sind. Herzlichen Glückwunsch zum Giovanni-Francesco-Marchini-Kunstpreis!
Martina Wehlte

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